Zwischen Grandiosität und Selbstzweifel: ein schmerzhafter Spagat
Manche Menschen wirken selbstsicher, unabhängig, charismatisch – und doch bleibt im Kontakt etwas Unnahbares. Hinter der glänzenden Fassade verbirgt sich oft ein empfindsamer, zutiefst verletzlicher Kern. Was auf den ersten Blick wie Selbstbewusstsein erscheint, ist nicht selten das Ergebnis einer frühen inneren Entscheidung: „Ich darf nie wieder so beschämt werden.“
In diesem zweiten Teil der Blogreihe geht es um narzisstische Prozesse – nicht als Pathologie, sondern als Überlebensstrategie. Als Versuch, toxische Scham zu überdecken. Als Schutzmechanismus, der in Beziehungen zu Kontrolle, Rückzug oder Dominanz führen kann. Und als Möglichkeit, durch bewusste therapeutische Arbeit wieder in echten Kontakt zu kommen.
Narzissmus neu gedacht – jenseits von Klischees
Der Begriff „Narzissmus“ ist im Alltag oft negativ belegt. Schnell denken wir an Egozentrik, emotionale Kälte oder Selbstverliebtheit. Doch diese Sicht greift zu kurz. In der therapeutischen Praxis begegnen wir selten den klinisch „narzisstischen Persönlichkeitsstörungen“ – sondern vielmehr Menschen mit narzisstischen Anteilen, die einen oft tiefen inneren Mangel zu kompensieren versuchen.
In der Gestalttherapie sprechen wir deshalb lieber von narzisstischen Prozessen. Damit sind Verhaltens- und Erlebensweisen gemeint, die sich aus einem verletzten Selbstwertgefühl heraus entwickeln – geprägt von früher Scham, mangelnder Einstimmung und unsicheren Bindungen.
Ein solcher Prozess verläuft oft wie folgt:
- Ein Kind erlebt mangelnde Resonanz, emotionale Vernachlässigung oder wird überfordert.
- Daraus entsteht ein schambasiertes Selbstbild: „Ich bin nicht gut genug.“
- Um nicht mehr in diesen Schmerz zu geraten, wird ein Größenselbst aufgebaut: „Ich schaffe das allein. Ich bin besonders. Ich brauche niemanden.“
- Das verletzliche Minderselbst wird verdrängt – ebenso wie die Scham, die es schützt.
Das Problem: Das Größenselbst schützt zwar kurzfristig, bleibt aber immer von der Bestätigung anderer abhängig. Kritik wird zur Bedrohung, Nähe zur Gefahr, Schwäche zum Tabu. Beziehungen geraten unter Spannung – denn echte Verbindung würde bedeuten, sich berührbar zu machen.
Wenn Stolz schützt – typische Muster narzisstischer Schamabwehr
Der zentrale Antrieb narzisstischer Prozesse ist der Schutz vor Verletzlichkeit. Besonders vor der tiefen, existenziellen Scham, die mit dem Gefühl verbunden ist, nicht liebenswert, ungenügend oder unzulänglich zu sein. Weil diese Scham kaum bewusst zugänglich ist, werden Strategien entwickelt, um sie systematisch zu vermeiden. In der Gestalttherapie sprechen wir hier von Schamabwehr.
Typische Muster dieser Abwehr sind:
- Selbstidealisierung: Der Aufbau eines überhöhten Selbstbildes – stark, unabhängig, souverän. Schwächen und Bedürfnisse werden verdrängt oder als Gefahr empfunden.
- Fremdabwertung: Um sich selbst im positiven Licht zu halten, wird das Gegenüber abgewertet. Kritik, andere Meinungen oder emotionale Reaktionen werden entwertet oder lächerlich gemacht.
- Kontrolle: Starke Tendenz, Situationen, Gefühle und Beziehungen zu steuern. Unvorhersehbares oder Emotionales wird als Bedrohung erlebt.
- Rückzug ins Denken: Distanzierung vom eigenen Fühlen durch intellektuelle oder spirituelle Überhöhung. Gefühle werden analysiert statt erlebt.
- Kontaktvermeidung: Tiefe Nähe oder echte Intimität werden umgangen, da sie mit Kontrollverlust oder Entblößung verknüpft sind.
Diese Mechanismen entwickeln sich oft früh – und waren ursprünglich sinnvolle Anpassungen. Ein Kind, das emotional überfordert war, konnte nicht sagen: „Ich brauche Hilfe.“ Stattdessen wurde der Impuls eingefroren, verdrängt, in Kontrolle oder Leistungswillen umgewandelt. Daraus entsteht ein inneres Klima, in dem ein innerer Anteil, das Größenselbst regiert – und das Minderselbst, der verletzte schamhafte Anteil keinen Raum bekommt.
Besonders deutlich zeigt sich das in engen Beziehungen: Wenn Erwartungen entstehen, wenn jemand nah kommt, wenn alte Bindungswunden aktiviert werden. Dann schaltet sich das Schutzsystem ein – oft subtil, manchmal heftig. Und oft mit der Folge, dass das Gegenüber sich abgewertet, ausgeschlossen oder emotional alleingelassen fühlt.
Therapeutischer Zugang – Wege durch Stolz und Schutz
Narzisstische Prozesse lassen sich nicht „durchbrechen“ – sie wollen verstanden werden. Denn hinter dem Bedürfnis nach Kontrolle, Überlegenheit oder Unnahbarkeit steckt oft ein tiefer Mangel an Vertrauen: in sich selbst, in andere, ins Leben. Therapeutisch wirksam wird, wer nicht mit Konfrontation reagiert, sondern mit Interesse und Präsenz.
Die Grundfrage im therapeutischen Kontakt lautet deshalb nicht: „Wie knacke ich die Maske?“ Sondern: „Was schützt diese Maske?“
Ein heilsamer Zugang kann entstehen, wenn:
- Ein klares Arbeitsbündnis besteht: Was sind Ziel und Rahmen der Zusammenarbeit?
- Wohlwollende Spiegelung statt Analyse erfolgt: „Ich sehe, wie viel Kraft du aufwendest, um nicht verletzlich zu wirken.“
- Kontakt mit dem verletzlichen Selbst möglich wird – über vorsichtige Fragen wie: „Was wäre, wenn du das gerade nicht wissen müsstest?“ oder „Was würde passieren, wenn du dich einen Moment anlehnen dürftest?“
- Psychoedukation die schützende Funktion des Größenselbst erklärt, ohne sie zu pathologisieren
- Anteilearbeit innere Konflikte zwischen Selbstidealisierung und Bedürftigkeit sichtbar und verhandelbar macht
Heilung beginnt, wenn Menschen erleben: „Ich darf sein – auch wenn ich nicht besonders, stark oder überlegen bin.“ Wenn der innere Kampf zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Angst vor Entblößung Raum bekommt, ohne bewertet zu werden.
Therapeutinnen, die mit Klientinnen in narzisstischen Prozessen arbeiten, brauchen ein gutes Gespür für die eigene Reaktivität. Denn Kränkungen, Rückzug oder Überlegenheit können auch im therapeutischen Kontakt auftauchen – und dort bewusst gehalten werden. Das erfordert eine innere Haltung von Klarheit, Standhaftigkeit und echtem Mitgefühl.
Narzissmus und Co-Abhängigkeit – ein unsichtbares Zusammenspiel
Narzisstische Muster entfalten ihre größte Dynamik dort, wo Nähe entsteht – in Partnerschaften, Freundschaften, therapeutischen Beziehungen. Denn hier wird das alte Dilemma spürbar: das gleichzeitige Sehnen nach Verbindung und die tiefe Angst davor. Co-Abhängigkeit ist oft die unbewusste Lösung dieses Dilemmas – ein Tanz zwischen Anpassung und Kontrolle, zwischen Bedürftigkeit und Überhöhung.
In co-abhängigen Beziehungen treffen meist zwei verletzte Systeme aufeinander:
- Die eine Seite braucht Bewunderung, Bestätigung, Kontrolle – und vermeidet dabei ihre eigene Bedürftigkeit.
- Die andere Seite ordnet sich unter, gleicht aus, übernimmt Verantwortung – oft in der Hoffnung, endlich gesehen und geliebt zu werden.
Beide Seiten bewegen sich dabei in einem Beziehungsmodell, das nicht auf Augenhöhe stattfindet. Es geht weniger um echten Kontakt als um gegenseitige Funktionserfüllung. Nähe wird nur so weit zugelassen, wie sie das Selbstbild nicht gefährdet – weder das eigene noch das des Gegenübers.
Gerade in solchen Dynamiken zeigt sich das Zusammenspiel von Scham und Macht besonders deutlich:
- Wer sich tief im Innern für „zu bedürftig“ oder „zu schwach“ schämt, wird andere abwerten, die genau das zeigen.
- Wer glaubt, nur durch Selbstaufgabe geliebt zu werden, wird seine eigenen Grenzen nicht spüren – und damit unbewusst das Größenselbst des anderen stabilisieren.
Erst wenn diese Muster erkannt und benannt werden, entsteht ein Raum für echte Veränderung. Co-Abhängigkeit löst sich, wenn beide Seiten wieder in Kontakt mit ihrer eigenen Würde, Verletzlichkeit und Verantwortung kommen.
Heilung geschieht dort, wo wir einander nicht mehr benutzen müssen – sondern uns gegenseitig halten können.
Im dritten und letzten Teil dieser Reihe widmen wir uns deshalb den Wegen zurück in gesunde Beziehung: Wie kann sich Co-Abhängigkeit verwandeln? Was stärkt echte Verbundenheit? Und wie hilft uns die Arbeit mit inneren Anteilen, aus alten Mustern auszusteigen?


